Die eigene Hochsensibilität oder Hochbegabung anzuerkennen und entsprechend zu leben, ist ein Prozess. In meinem Beruf als psychologische Beraterin von hochsensiblen und/oder hochbegabten Menschen begleite ich meine Klienten auf diesem Weg. Erfahrungsgemäß durchlaufen sie einige Phasen, die bei allen weitestgehend gleich sind.
Hochsensibilität oder Hochbegabung an sich ist weder gut noch schlecht, doch dieser Prozess hat durchaus teilweise gravierende persönliche und auch soziale Auswirkungen. Er kann Chaos unterschiedlichen Ausmaßes im Selbstverständnis und dem Blick auf die Welt verursachen, bis er vollständig durchlaufen ist. Dabei ist eine fachkundige Begleitung ungemein hilfreich und kann den Prozess sogar (deutlich) beschleunigen.
Als erwachsener Mensch zu entdecken, dass es einen Namen gibt für dieses diffuse Gefühl des Andersseins, das sie schon ihr ganzes Leben begleitet, löst etwas aus, das von Dr. Michael Jack (IFHS e. V.) vor vielen Jahren als „Gebirgsketten-Effekt“ bezeichnet wurde. Und in der Tat trifft das auf die meisten Hochsensiblen, Hochbegabten und auch Synästheten zu. Ganze Geröllhalden fallen ihnen vom Herzen. Damit beginnt für viele eine lange Reise: die Reise zu sich selbst, zu ihrer wahren Identität.
Entdeckung: „Ich bin gar nicht komisch und habe auch keinen Makel, ich bin nur ANDERS!“
Diese Aussage habe ich genauso oder in ähnlicher Form tausendfach gehört/gelesen. Und klar: auch mir ging es so, als ich meine Hochsensibilität, Hochbegabung und Synästhesie entdeckte. Es stellt sich eine unglaubliche Erleichterung ein, manche lachen vor Freude, andere weinen stundenlang, manche beides zusammen und man möchte in die Welt hinausrufen: „Seht ihr! Mein Gefühl hat mich nicht getrogen! Es gibt einen Namen für mein Sein, meine Gedanken, meine Gefühle und mein Verhalten!“
Ich habe das damals getan, sogar in der Zeitung. Heute rate ich meistens – zumindest für die erste Zeit – davon ab. Aber diese Geschichte erzähle ich dir später mal in einem anderen Artikel…
Erste Zweifel – Ablehnung: „Was denn… Ich? – Das glaube ich nicht!“
Nach einer Weile stellen sich die ersten Fragen und es kommt Unsicherheit auf: „Kann das wirklich sein? Ich?“; „Vielleicht bilde ich mir das nur ein und der Fehler liegt in Wirklichkeit doch bei mir?“; „Gehören diese oder jene Gedanken oder Gefühle auch dazu, oder ist das doch noch etwas anderes?“; „Wie kann ich sicher sein, dass ich das wirklich bin?“; „Nein, ich bilde mir das alles bestimmt nur ein!“.
Einige legen die Erkenntnis darauf hin (für einige Zeit) wieder beiseite, möchten das alles hinter sich lassen. Doch es lässt sich nicht mehr abschütteln. Ist die Erkenntnis erst einmal im Bewusstsein angekommen, nagt sie an einem so lange, bis man Gewissheit und sie ins Leben integriert hat.
Andere wollen jetzt sofort Gewissheit und scheuen dafür weder Kosten für einen Berater/Coach/Mentor noch Mühen, zum Beispiel, um entsprechende Gruppen in social-media oder im realen Leben zu suchen und ihnen beizutreten, was ich ausdrücklich und immer empfehle. Der Wunsch nach Austausch mit GleichgeSINNten oder GleichbeFÄHIGten ist überwältigend. Ebenso empfehle ich immer auch Literatur, zum Beispiel meine Bücher „Hochsensibel“ und „Hochbegabt?“.
Das in den Büchern vermittelte Grundwissen hilft, sich selbst und die Bedeutung dieser Erkenntnis für das eigene Leben und die Beziehungen zu anderen besser zu verstehen. Die meisten wissen in dieser Phase noch nicht, wie wichtig diese Erkenntnis für ihr Selbstverständnis und auch bezüglich der Wahrnehmung anderer Menschen ist (in beide Richtungen). Sie haben die Tragweite des Ganzen noch nicht im Blick.
Eine Begleitung durch eine/n erfahrene/n BeraterIn/Coach für Hochsensibilität/Hochbegabung kann hier sehr hilfreich sein. Er/sie hat diesen Prozess bereits selbst durchlaufen, viele andere dabei begleitet und kennt die Strategien die dabei helfen, deine Zweifel oder Ablehnung auf konstruktive und gesunde Weise zu überwinden. Das spart dir eine Menge Irrwege, Zeit und Energie. Dazu wirst du genauestens über deine Hochsensibilität/Hochbegabung aufgeklärt, so dass du dich besser kennen lernen und damit den Selbstbetrug („Nein, das bin ich nicht, weil …“), der in dieser Phase häufig ist, erkennen und ihm ggf. vorbeugen bzw. ihn beseitigen kannst. Deine fachkundige Begleitung wird dir dabei helfen, mit deinen Emotionen konstruktiv umzugehen und die Tragweite deiner Erkenntnis zu verstehen. Außerdem lernst du, deine Bedürfnisse so zu kommunizieren, dass sie für andere verständlich sind, ohne die Begriffe Hochsensibilität oder Hochbegabung zu bemühen (weil beides häufig negativ konnotiert ist und damit gleich Ablehnung hervorruft).
In dieser Phase fällt ein gravierender Unterschied zwischen Frauen und Männern auf: Während Frauen eine mögliche Hochbegabung bei sich selbst rundheraus ablehnen, können Männer sie meist ganz gut annehmen und lehnen eher eine Hochsensibilität für sich ab. Dem entsprechend gestalten sich auch die weiteren Phasen bei beiden Geschlechtern etwas, aber nicht wesentlich unterschiedlich.
Verlust „Und was kommt dann…?“
So schön und befreiend die Erkenntnis auch ist, so viel Angst kann sie auch auslösen. Die Entdeckung einer neuen Identität (ja, das ist es!), die sich noch dazu so richtig anfühlt, bedeutet auch den Verlust der alten Identität, des alten Selbstbildes, das man sich über die ganze Lebenszeit aufgebaut hat. Die Aussicht, das vermeintlich sichere Fundament aufzugeben, auf dem das ganze bisherige Selbstbild aufbaut, und sei es noch so falsch, noch so brüchig, kann ungeheure Ängste auslösen. „Was ist mit meiner Familie, mit meinen Freunden, meinen Bekannten? Werden sie mich immer noch mögen, wenn ich sage, sie merken, dass ich anders bin? Werde ich dann noch dazugehören? Oder werde ich ganz allein dastehen? Ja, was ist dann…?“ Auf der anderen Seite ist da die freudige Aufregung darüber, dass es das ganze Leben rückwirkend erklären würde…
Manchmal überkommt sie auch die blanke Wut oder unbändige Trauer. Wut darüber, dass es niemand erkannt hat. „Warum hat mir das keiner gesagt?“; Trauer über verpasste Chancen „Wenn das in meiner Kindheit schon erkannt worden wäre, dann …“. Diese Gefühle sind völlig normal und sie dürfen sein. Du darfst toben, weinen und auch Angst haben! Nur auf diese Weise können diese Emotionen konstruktiv verarbeitet werden und du kannst einen Schritt weiter gehen und beginnen, deine Emotionen in positive Energie umzuwandeln. In dieser Phase kommt es manchmal auch vor, dass jemand „nicht hochsensibel/hochbegabt sein möchte“. Er/sie sucht Gründe, warum das nicht sein kann und fragt sich, ob man das nicht einfach ignorieren kann? Der Weg scheint ihnen zu weit, das Ziel unerreichbar und der Verlust zu groß. Das kann in eine depressive Phase führen oder Panik hervorrufen. Auch Momente von Depersonalisation kommen vor, sie fühlen sich von sich selbst entfremdet. Sicher kann das entmutigend sein und gar Ängste hervorrufen, aber auch das sind vorübergehende Erscheinungen.
Eine fachkundige Begleitung kann dich in dieser hoch emotionalen Phase stützen und stärken. Allein die Gewissheit, dass da jemand ist, der all diese Emotionen, die Angst, die Wut und die Trauer selbst durchlebt hat, der dich versteht und annimmt so wie du bist, wie es gerade ist, gibt Kraft und macht Mut!
Annahme: „Ok, so bin ich!“
Nachdem die ersten Emotionen wieder abgeflaut sind, finden die meisten den Mut, die Hochsensibilität und/oder Hochbegabung für sich anzuerkennen und diese neue Identität anzunehmen. Sie haben viel über Hochsensibilität/Hochbegabung gelernt und verstehen ihre Tragweite. Aber sie wissen, dass sie noch einen weiten Weg vor sich haben, den sie jetzt aktiv beschreiten. Sie beginnen, ihr altes fragmentiertes Selbstbild neu aufzubauen. Jetzt stellen sich Fragen wie „Und was fange ich jetzt damit an?“; „Wie kann ich mein Leben gestalten, so dass es sich für mich wirklich gut anfühlt?“; „Was brauche ich wirklich und auf was kann ich verzichten?“ Sie beginnen, ihr Leben umzugestalten. Diese Phase ist zugleich ein herausfordernder, überwältigender, beängstigender, frustrierender und befreiender und manchmal auch lustiger Prozess. Dabei erfahren sie noch mehr über sich selbst, eigene Werte und Vorlieben und beginnen daraufhin, alte Glaubenssätze und negative Selbstbewertungen aufzugeben – bis in die kleinste Nische ihres Seins: Sie beginnen, authentisch zu leben.
Bei der Vermutung einer Hochbegabung stellt sich – insbesondere bei Frauen, s. o. – vor allem die Frage, ob ein IQ-Test, eine Begabungsdiagnostik sinnvoll ist oder nicht. Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden, die Antwort ist individuell ganz unterschiedlich. Ein Testergebnis kann die Annahme erheblich erleichtern und auch beschleunigen. Es kann aber auch, wenn der Schwellenwert von IQ ≥ 130 nicht erreicht wird, weit zurückwerfen und erneut große Selbstzweifel auslösen, ja sogar bis zur vollständigen Ablehnung des neuen Selbstbildes führen. Deshalb ist es immer ratsam, mit der fachkundigen Begleitung darüber zu sprechen.
Aus meiner beruflichen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass alle hochsensiblen oder hochbegabten Klienten, die ich begleitet habe, alle Phasen dieses Prozesses durchlaufen. Beim einen geht es schneller, beim anderen dauert es länger und die Phasen überschneiden sich auch, so dass einige manchmal den Eindruck haben, sie kommen nicht von der Stelle. Sich gegen diesen Prozess zu wehren oder einzelne Phasen abzulehnen macht jedoch keinen Sinn, es raubt nur Zeit und Kraft. Das Durchleben der mitunter heftigen Emotionen ist sinn- und wertvoll, weil es zeigt, wo alte Glaubenssätze noch sehr stark sind – und auch, welche Anteile in die neue Identität mitgenommen werden können. Dabei kann eine fachkundige Begleitung Gold wert sein.
Ich selbst hatte zu Beginn meiner Reise eine Mentorin und Lehrerin, die mein Fels in der Brandung war, und mich verständnisvoll, sicher und souverän durch diesen Prozess begleitet hat. Vielleicht wäre ich auch ohne sie zum Ziel gekommen, vielleicht nicht. Aber sicher hätte es sehr viel länger gedauert und mich sehr viel mehr Kraft gekostet.
„Dass ich mich heute endlich ‚ganz‘ und vor allem ‚richtig‘ fühle, habe ich den Gesprächen mit Eliane zu verdanken. Mit Hilfe ihres ausgeprägten Gespürs für die feinen Details, die wichtigen und richtigen Fragen, ihrem umfangreichen Fachwissen, ihrer freimütigen Art und ihrem echten Interesse am Gegenüber, habe ich für mich in kürzester Zeit die blinden Flecken auf der eigenen inneren Landkarte erschlossen und damit haben endlich auch die Puzzleteile ihren Platz gefunden, die all die Jahre nie ins Bild passen wollten. Das Schönste aber war, in ihr einen Menschen und Mentor zu finden, der stets mit den Augen nach vorn, ohne zu ziehen oder zu schieben und immer im richtigen Tempo, dafür gesorgt hat, dass ich jetzt alleine stehen, laufen, rennen kann.“ Romy S.
Wo bist du gerade auf deiner Reise?
Überlege dir, wo du gerade stehst und welche Unterstützung du gebrauchen kannst, denn du hast jede Unterstützung verdient! Genauso wie ich damals.
Ich freue mich sehr, wenn ich dir helfen und dich auf deiner Reise ein Stück weit begleiten darf. Schreibe mir einfach eine Email an eliane@eliane-reichardt.com oder benutze das Kontaktformular auf dieser Website!
Bis zum nächsten Mal alles Liebe für dich
Eliane
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