High Sensation Seeker
Der Sonderfall unter den Hochsensitiven.
Es wurde bereits gesagt, dass etwa 70% der HSM introvertiert und etwa 30% extravertiert sind. Etwa. Ich persönlich schätze, dass ca. 5% dabei "übrig" bleiben. Das sind die wenigen Menschen, die weder eindeutig zu der einen, noch zu der anderen Gruppe gehören.
High Sensation Seeker (HSS) sind extrem. Extrem introvertiert und gleichzeitig extrem extrovertiert. Ihr Leben ist eine ständige Gratwanderung zwischen dem für HSM so typischen Schutz- und Ruhebedürfnis und dem dringenden Bedürfnis, angeregt zu werden oder zu sein. Meistens leben sie phasenweise ihre Bedürfnisse aus. Das heißt, dass sie vielleicht eine Woche ständig unterwegs, immer präsent und agil sind und in der nächsten Woche wie vom Erdboden verschluckt, für niemanden greifbar. Sie gehen nicht ans Telefon, beantworten keine Email und machen auch die Tür nicht auf. Alles nervt! Gedanken wie "Die sollen mich doch alle in Ruhe lassen" sind in diesen Phasen vorrangig und völlig normal. Bis ihnen die Ruhe auf die Nerven geht, sie sich von aller Welt verlassen fühlen und Gedanken wie "Niemand interessiert sich für mich" überhand nehmen. Dann geht das Spiel von vorne los...
Die Phasen können länger oder kürzer sein als eine Woche. Das liegt in einer Zeitspanne von wenigen Stunden bis zu Monaten oder Jahren und ist abhängig vom jeweils individuellen Ausprägungsgrad und der persönlichen Lebenssituation.
Wenn überhaupt dieser Typus in der Literatur beschrieben wird, dann meistens recht kurz und knapp. Kein Wunder. Erfahrungsberichte sind naturgemäß selten. HSS sind selten! Aber es gibt sie. Und auch sie sind völlig normal. Nur eben anders. Extrem anders. Und immer Höchstleister. In ihrer aktiven Phase.
Evelyn Rittmeyer (Vortragsmanuskript) beschreibt sie wie folgt:
Diese extravertierten, hochempfindlichen Menschen haben es nicht leicht: sie müssen ständig den schmalen Grat finden, der die Balance der optimalen Stimulation darstellt. Sie leben in beiden Welten, was sie hin und her reißt. Sie sind leicht überstimuliert, aber auch leicht gelangweilt. Sie neigen dazu, oft und gern Neues auszuprobieren - und sich dabei auch zu überfordern. Periodisch schwanken sie zwischen Phasen der Extravertiertheit und des Rückzugs. Entwickeln sie nicht Fähigkeiten zum Selbstmanagement (besser gesagt: zur Selbstführung!), sehen wir scheinbar sprunghafte und impulsive Menschen, die Dinge anpacken und wieder hinwerfen, die ihre Umwelt verwirren und im Extremfall den Eindruck einer gespaltenen Persönlichkeit hervorrufen.
Rolf Sellin („Wenn die Haut zu dünn ist“) schreibt:
[…] Es handelt sich um die Hochsensiblen, die zugleich High Sensation Seeker sind. Bei ihnen wechseln Zeiten, in denen sie nur wenige Reize vertragen und sich typisch hochsensibel verhalten, mit Phasen, in denen ihnen die Reize nicht stark genug sein können und in denen sie große Herausforderungen suchen und Risiken eingehen, Kampf und Wettbewerb lieben, was für Hochsensible sonst völlig untypisch ist.
Hochsensible, die zugleich zur Gruppe der High Sensation Seeker gehören, verstehen sich oft selbst nicht, und ihre Mitmenschen sind ebenso irritiert über ihre Widersprüchlichkeit. Sie entsprechen nicht der landläufigen Vorstellung, nach der man entweder so ist oder so. Oft wenden sie diese Art von Logik auf sich selbst an und unterdrücken eine ihrer beiden Seiten, vielleicht zu unterschiedlichen Zeiten mal die eine und mal die andere. Sie sind jedoch beides: hochsensibel und zugleich risikofreudig.
Hierzu möchte ich anmerken:
Dem Leser mag hier der Begriff „Sensation“ wie "sensationell" anmuten, also als "mit Risiko (im landläufigen Sinne) behaftete Aktivitäten" wie z. B. Fallschirmspringen oder Bungeejumping. Diese Form der High Sensation Seeker gibt es.
„Sensation“ sehe ich hier vor allem im medizinischen Sinne als "Reiz". Reize werden in der Medizin (Neurobiologie) auch Sensationen genannt. Das muss also nicht unbedingt etwas mit Risiko nach allgemeingültigem Verständnis zu tun haben.
Hohe Reize können auch rein kognitive sein, die die Emotionen berühren. Wenn z. B. ein Wissenschaftler eine geniale Entdeckung gemacht hat, oder ein lange gehegter Wunsch realisiert wird, z. B. eine außergewöhnliche Reise. Das kann der „Kick“ bei einem Fußballfan sein, dessen Verein gewonnen hat oder auch ein Gefühl der Verliebtheit, das so stark ist, dass der HSS den neuen Partner gleich am zweiten Tag heiraten will. Oder auch die ständige Suche nach Herausforderung bei jedem neuen Job.
Nach dem ersten „Kick“, der je nach Sensation (Reiz) auch schon mal einige Monate anhalten kann, kommt der HSS meist recht schnell und oft auch recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurück.
Oft sind es die Menschen mit einem „unsteten“ Lebenslauf, sowohl beruflich als auch privat. Häufig wechselnde Beziehungen (erziehungsbedingt eher bei Männern), häufig wechselnde Jobs, alle drei Jahre ein neuer Wohnort, jeden Monat ein anderes Auto. Das alles ist nicht unbedingt "risikobehaftet" im landläufigen Sinne.
Es hat auch weniger mit Unbeständigkeit zu tun, sondern mehr mit Unterforderung. Es ist die ständige Suche nach der optimalen Reizschwelle. HSS, die in wenigstens einem Bereich „ihren Meister“ (das muss kein Mensch sein!) gefunden haben, sind meistens auf der anderen Seite ganz HS-like sehr bodenständig. Wenn sie ihren unsteten Geist fesseln und damit befriedigen können, brauchen sie auf der anderen Seite die Ruhe, (emotionale) Sicherheit und Zurückgezogenheit, die so typisch ist für HSM. Um sein ganzes Spektrum leben (und genießen) zu können, muss der HSS aber zunächst wissen, dass er ein solcher ist!
Barbara Sher nennt diese Menschen "Scanner". Freilich ohne den Hintergrund der HS zu berücksichtigen. Hochsensitivität ist bei ihr kein Thema. Ihre Bücher möchte ich dennoch dringend allen HSS ans Herz legen. Und auch denen, die vermuten, einen HSS in ihrem Umfeld zu haben, den sie gern besser verstehen oder doch zumindest besser kennen lernen möchten.
Bei Andrea Brackmann („Jenseits der Norm“) liest man u. a. von Grenzgängern, die sich im Milieu genauso sicher bewegen, wie in philosophischen Debattierzirkeln und einen Standpunkt bis aufs Blut verteidigen können, um ihn im nächsten Moment aus der völlig entgegen gesetzten Perspektive vehement zu widerlegen.
Birgit Trappmann schreibt von "hochsensitiven Scannern" und beschreibt diese als
"Extrem begabt, extrem neugierig, extrem viel Wissen, extrem viele Ideen, extrem sensibel und extrem viele unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten. Trotzdem 0 € auf der hohen Kante.
Hochsensible Scanner haben ein 3-faches „Luxusproblem“, denn sie tragen Hochsensibilität, Sensation Seeking und eine Höchstbegabung in sich und ahnen oftmals nichts von alledem.
In normalen Arbeitssituationen kommen sie sich vor, als würden sie unter Ihrem Niveau bleiben, ecken nicht selten an, oder landen im Burn-out. Manche kommen sich auch vor, als würden sie mit angezogener Handbremse fahren. Hochsensible Scanner fassen erfahrungsgemäß erst in späteren Jahren zu ihren Begabungen Vertrauen, nämlich erst dann, wenn sie genug ausprobiert haben. So können sie sich sicher sein, dass dies nicht der Norm entspricht und vielleicht sogar über der Norm liegt? Hier spricht eindeutig der HSM-Anteil und sehr vorsichtig ziehen hochsensible Scanner in Erwägung, dass sie vielleicht hochbegabt sein könnten. Manche HSM-Scanner leben sehr angepasst und verstecken ihre Fähigkeit. Manche haben auch ein schlechtes Gewissen, weil sie vieles einfach gerne machen und sich nicht genug mit der Familie beschäftigen. Oftmals sind HSM-Scanner introvertiert, wirken aber wie Extrovertierte. Es kommt auch vor, dass hochsensible Scanner Züge eines autistischen Spektrums zeigen und denken, dass mit ihnen vielleicht etwas nicht in Ordnung ist.“
In der Arbeitswelt ist Kontinuität wichtig. Das ist für Scanner zuweilen eine schwierige Aufgabe, weil sie so viele Möglichkeiten sehen, so viele Interessen haben. Wenn sie ihren Focus auf ein Interessengebiet gerichtet haben, sind sie imstande, innerhalb von einer Woche das zu erarbeiten, wozu andere Mitarbeiter vier Wochen mit Überstunden benötigen. Haben sie das System verstanden, wird diese Sache für sie oftmals schnell wieder uninteressant. Denn was jetzt folgen würde, wäre für den HSS Routine. Wie in vielen anderen Bereichen, ist er auch hier extrem: Routinearbeiten sind nicht sinnstiftend und so macht er sich erneut auf die Suche nach interessanten Aufgabenstellungen.
Von außen betrachtet macht dieses Verhalten einen recht unsteten Eindruck und man könnte glauben, solche Menschen seien nicht verlässlich. Diese Einschätzung jedoch ist weit gefehlt. Sie stehen in ständigem Konflikt mit dem für HS/HB so typischen Bedürfnis nach Sicherheit und Kontinuität und ihrem extrem neugierigen Geist und der draus resultierenden hohen Leistungsfähigkeit. Dieser Konflikt äußert sich mitunter durch ein Hin- und Hergerissen-Fühlen, ein Zerrissen-sein und/oder dem Gefühl, man sei nicht normal.
Es ist eine schwere, aber lösbare Aufgabe, diese gegensätzlichen Bedürfnisse in Einklang zu bringen und so profitiert ein hochsensitiver Scanner von einem Mentor, der ihn eine Weile begleitet.
Anmerkung: Ob es sich bei HSS und hochsensitiven Scannern tatsächlich um dieselbe Bevölkerungsgruppe handelt, kann nicht sicher gesagt werden. Meine berufliche Erfahrung scheint dies jedoch zu bestätigen.
Wissenschaftlich bewiesen ist weder die Existenz von HSS, noch die hochsensitiver Scanner. Alle Aussagen beruhen auf Erfahrungswerten und (logischer) Verknüpfung von Einzelinformationen. Empirische Untersuchungen existieren hierüber nicht.
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